vergessen Diskussionsbeitrag von Vrääth Öhner

Beantwortung der Frage, warum es so schwer fällt, Vergessen positiv zu fassen: These: Vergessen ist nicht der Gegensatz von Erinnern, sondern dessen äußerste Grenze, das genaue Außen des Erinnerns, wohin und woher alles Erinnern geht und kommt. Das Problem des Vergessens ist, daß es die Bewegung bezeichnet, die ins Nichts führt: nicht atembare Leere.

Wir erfahren vom Vergessen in der Erinnerung: Ähnlich wie das Bewußtsein nur jene Dinge erfaßt, die es gerade beleuchtet, den ganzen Rest jedoch nicht. Man kann drei Arten des Vergessens unterscheiden: 1. Woran gerade nicht gedacht wird ­ als Bedingung für die sinnvolle Kohärenz der Erinnerung oder der Wahrnehmung: Hier ist das Vergessen die aktuelle Grenze der Erinnerung oder der Wahrnehmung. 2. Was bereits vergessen ist, jedoch durch gezielte Rekonstruktion oder durch einfachen Zufall wieder hervorgeholt werden kann: Hier bewegen sich die vergessenen Sachverhalte bereits an einer Grenze, jenseits derer Erinnerung unmöglich wird. 3. Was unwiederbringlich vergessen ist: Das Paradox des Vergessens, daß man nicht sagen kann, was vergessen wurde.

Für Martin Heidegger gibt es Erinnerung nur auf dem Grunde des Vergessens.

Die Erinnerung ist immer von einem imperialistischen Zug gekennzeichnet, indem sie die Vergangenheit in einem Bild oder einer Serie von Bildern einfängt, diesen ihre stereotype Ordnung aufzwingend. Deleuze/Guattari: "Die Erinnerung ist ein Familienporträt oder Ferienfoto mit Herren, die den Kopf senken, und Damen, die Bänder um den Hals tragen. Die Erinnerung blockiert den Wunsch, zieht ihn auf Rahmen, preßt ihn in Klischees, kappt ihm alle Verbindungen ab" (Kafka, S. 8). Seit der Antike gibt es eine "Sakralisierung der Erinnerung" (LeGoff), was das Herausnehmen der Erinnerung aus der Zeit, ihre Abtrennung vom Werden der Geschichte bedeutet. In Differenz und Wiederholung betont Deleuze den ahistorischen Charakter der Vergangenheit an sich, auf den die Wiedererinnerung zielt. Es geht bei der Wiedererinnerung immer um eine Verheiratung von Eros und Mnemosyne: "Hier aber taucht Combray im Vergessen und als Unvordenkliches in Form einer Vergangenheit auf, die niemals gegenwärtig war: das Ansich Combrays" (117). Das Ansich der Vergangenheit kann begehrt werden, es kann sogar (durch einen glücklichen Zufall) zugänglich werden; aber das Ansich der Vergangenheit hat nichts mit der historischen Vergangenheit zu tun. Das Ansich der Vergangenheit ist ein Glanz, der niemals gegenwärtig war. Es ist das Verlangen nach einer Situation, die den sich erinnernden Menschen als Ganzen einbezieht. Das Vergessen mag ebenfalls imperialistische Züge aufweisen, jedoch nur in dem Sinn, daß es auch Gebiete besetzt: Das Vergessen errichtet keine neue Ordnung, das Vergessen ist ein Raubzug, der die besetzten Gebiete zerstört. Es läßt nichts zurück und nimmt auch keine Gefangenen. Dennoch ist es nicht Nichts. Nur vom Standpunkt der Erinnerung aus kann es als Gegensatz gedacht werden und als Leere, die es auszufüllen gilt. Vom Standpunkt des Vergessens aus wird das Vergessen zu einem Begriff zwischen Erinnern und Vergessen (das reine Vergessen ist nicht wie die reine Erinnnerung positiv denkbar), dem dennoch nichts fehlt: Nicht der negative Teil der Erinnerung ist das Vergessen, sondern es ist eine Kraft (die Wirkung der Zeit?), die mitten im Erinnern auftaucht und verhindert, daß dieses sich abschließt. Durch den Hinweis auf das Vergessen läßt sich jede Erinnerung als falsch erweisen, die sich auf eine vermeintlich gesicherte historische Referenz beruft.

Aus dieser letzten Überlegung ergibt sich ein weiterer Punkt. Borges hat ihn in seiner Erzählung Das unerbittliche Gedächtnis so formuliert: "Denken heißt, Unterschiede vergessen, heißt verallgemeinern, abstrahieren" (103). Das unerbittliche Gedächtnis nimmt nicht nur alles auf und speichert alles, es reproduziert auch alles genau so, wie es aufgenommen wurde. In diesem Fall beginnt die Sprache zu wanken: Es gibt dann keinen Grund mehr, "warum der Allgemeinbegriff Hund so viele verschiedene Geschöpfe verschiedener Größe und verschiedener Gestalt umfassen soll, daß der Hund von 3 Uhr 14 (im Profil gesehen) denselben Namen führen sollte wie der Hund von 3 Uhr 15 (gesehen von vorn)" (102). Das Gedächtnis, die Erinnerung sind mit einer essentiellen Dummheit geschlagen. Im Wunsch, die Vergangenheit genau zu bewahren, schwingt die Drohung mit, sie endlos wiederholen zu müssen. Ebenso im Wunsch, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, die Unmöglichkeit erwächst, einen einfachen Zukunftsplan genau zu erfüllen (vgl. Lebensratgeber oder die einfältigen Lebensweisen in Klöstern und bei Sekten).

Ich schließe mit Daniel Charles: "Nein, der intensive Moment läßt sich in keine Momentform umsetzen; Der intensive Moment läßt sich auch nicht wieder aufnehmen in der imperialistischen Bewegung der Wiedererinnerung, die immer mehr oder weniger Eingedenken, d.h. religiös ist. Sondern das Vergessen, das in eben diesem Moment sich regt und aktiv wird, ist seinerseits nicht weniger zeitlich als die Zeit: es ist wie die Natur bei Hölderlin "mehr Zeit als die Zeit". Vergessen, das alle Schweigeminuten überflüssig macht: denn, was gibt es in Wirklichkeit musikalischeres als solche Minuten? Man lauscht dabei dem Tode nur, wenn man sich an ihn erinnert; und für jemand Vergeßlichen, d.h. obsiegend Lebenden, sind dabei sonst die Vöglein zu hören" (Musik und Vergessen, 1984, S. 20).

Welche Beziehung das Vergessen zur Zeit unterhält und damit zu den Intensitäten des Augenblicks, d.h. zum Formlos-Werden der (Erinnerungs-)Formen, damit möchte ich mich auch in Zukunft beschäftigen. Vielleicht ließe sich darüber hinaus eine kleine Geschichte des Vergessens schreiben (wie wurde über das Vergessen gesprochen)? Über das Fernsehen als automatisiertes Vergessen (und gleichzeitig neue Form des Erinnerns) arbeite ich sowieso.

contribution to the vergessen©discussion by Vrääth Öhner

Here is an answer to the question, why is it so hard to think about forgetting in positive terms: because forgetting designates a movement, that leads into nothingness: into an unbreathable void.

But it is not necessary to speak about this kind of pure forgetting, if we emphasize the positive forces of forgetting and if we characterize forgetting as an active capacity.

First: forgetting is not the contrary of remembering, but its ultimate limit, the precise exterior of all remembering, that, whereto all remembering goes and from where all remembering comes. Remembering and forgetting indissolubly belong together: I have to forget, before I can remember. The relations between forgetting and remembering are not such as always silently taken for granted, meaning that forgetting is running counter to a flawless remembering of the world, in particular if we look at the paradigm of memory as storage place of reproduceable data. On the contrary: who is unable to forget does not have a memory, all impressions, bygone as well as present ones, are simultaneously available. The very fact that we are talking about memory results from our knowledge that there exists something like forgetting. Memory always bears in itself a certain part of forgetting. Memory can only be constituted by acts of partial forgetting. Only because one forgets the details, one ist capable of remembering at all. Remembering and forgetting belong to each other like breathing in and breathing out.

In this light it appears strange, that for such a long time forgetting has been dealt with in pejorative terms only or in terms connotating lack and shortcomings. Not only have most of the evils of comtemporary life been attributed to forgetting (compare: L*vi-Strauss« analysis of myths in `Myth and Forgetting«), in Roman law for instance, forgetting as a major punishment ranked higher than the death penalty (damnatio memoriae: exile combined with the erasure of the name from the annals). We think of forgetting mostly in the context of the demand not to forget the memory.of guilt. To never forget. (One of the preconditions of present day debate about memory is the problem, how knowledge about the holocaust can be unfalsifiedly transmitted once all the witnesses will have died).

Here we have to make a distinction between two ways of talking about forgetting: One that orients itself according to a preestablished order, with a finished product so to speak, to point at those equally concrete facts, which the criticized order itself had to systematically exclude or forget. We are dealing here with the conflict between differing contents of remembering. It is possibly correct to speak about a political discourse of forgetting. To save the memory of the holocaust is certainly part of this discourse, especially if one considers the revisionist context, which in last analysis triggered off the concern about insidiously lingering forgetting.

In addition to this politically motivated discourse about forgetting there is another one, which orients itself not towards fixed orders, but which starts at the level of the production processes, where forgetting as an active force enables a production, which cannot be traced to the product: all creating of the new (predominantly in the area of aesthetics, of course) is here an example, because the genealogical realization of its coming about does not entirely reveal the secret ot its creation. This could be called a productive discourse of forgetting, which distinguishes itself from the political discourse of forgetting. Forgetting appears here as purely active part, as an opening of the unknown and not as the content of memories which have been repressed.

One could characterize this thought as specifically pertaining to modernity, even more so because Heidegger for instance deals with this thought under the title `instantaneous beeing for its time«, but in Greek antiquity Hesiod already spoke about two different kinds of forgetting: forgetting the good, which is the mother of conflict, and which aims at overcoming the enemy by destroying him, and forgetting the bad, which is granted by the Muses and which bestows instants of shared happines upon men (here: the possibility to intensively experience a specific instant.) Thus we find the division between the concepts of political and productive forgetting already laid out in this early text.

But be it as it may, also in the latter case of productive forgetting we are stuck with the unseparable connection between remembering and forgetting: Even if creative production is indeed possible due to forgetting, the products of this creation in most cases claim to be of eternal value (modernity thinks of the intensive moment also as the eternal one) and it is in this sense that the forgetting group can possibly distinguish itself one step further from this discourse.





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